FREISTIL – KW 21/23

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Wochenkommentar KW 21 – 28. Mai 2023

Gefallen in den Tag
Sprechen wir über das Vergessen. Über das Vergessen von Politikern. Die nicht mehr wissen, was sie noch vor Monaten gesagt haben. Die dann mit Archivbildern überführt werden. Und selbst danach noch immer behaupten, sie wären nicht verantwortlich. Sie hätten das nie gesagt. „Ein Buch vergisst nicht“, heißt es in meinem Werk Aphorismen atmen. Absichtliches Vergessen. Das machen Menschen, die keine Skrupel und keinerlei Anstand haben. Das machen Menschen, die von anderen schwergewichtigeren Trieben gesteuert werden. Kriminelle machen das. In Kindergärten und Schulen wird uns beigebracht, das nicht zu tun. Nicht lügen, nicht stehlen, nicht raufen! Wird uns das nicht beigebracht? Wurde ihnen das nicht beigebracht?

Ich vergesse auch häufig etwas. Heute meinen USB-Stick. Auf ihm alle Freistile, die Originalfassung von Aphorismen atmen und eine Reihe unveröffentlichter Kurzgeschichten. Einfach vergessen. Wo? In meinem Chaos aus Büchern, Manuskripten, Zeitungsberichten, Tagesprojektnotizen und seit Jahren unangegriffenen Stapeln, die sich, wie mir scheint, in den Himmel türmen. Ja, wo ist er denn? Der Schweiß tropft über mein kurzärmliges Hemd. Ich habe zwei derselben Sorte gekauft. Eines in L und eines in M – und ich folge Albert Einstein, der auf die Frage, warum er mehrere idente graue Anzüge habe, geantwortet haben soll: „Somit erspare ich mir die Auswahl!“ Ich würde mir auch gerne das eine oder andere ersparen. Und viele Menschen wissen gar nicht, was Sparen bedeutet. Die Tradition des Sparens ist verschwunden. Einer Work-Life-Balance-Generation, die 10 Stunden die Woche arbeiten möchte, ist das Sparen auf gut kärntnerisch „wuarscht“! Wir ernähren uns täglich und die Kriegsgeneration stirbt nach und nach. Auf Vorrat und vorausschauend weicht dem hier und jetzt, indem alle verbrennen. Der USB-Stick ist futsch. Doch nicht in der Waschmaschine gelandet!? Wieder Geschichten, die nie an die Öffentlichkeit gelangen. Texte, die uns erspart bleiben. Vor Jahren hätte ich mich dumm und dämlich geärgert, mittlerweile hat sich das geändert. Da ich, im Gegensatz zu geschätzt vier Fünftel der Bevölkerung, zu jenen gehöre, die dieser Pfingsttage NICHT nach Lignano gefahren sind, hatte ich ernsthaft Zeit, das Leben wieder mal zu genießen. Und wissen Sie womit? Mit den elementarsten Dingen, die mich/uns glücklich machen. Woher weiß der, was mich glücklich macht? Nun, weil ich umgeben bin, von Unglücklichen, Getriebenen. All jene, die behaupten, sie hätten die Freiheit gepachtet, wuseln in Facebook und Co. zwischen Arbeitsplatz und alltäglicher Höchstleistung, bis, ja bis – nichts mehr geht. Was habe ich also getan an diesen verlängerten Wochenenden, auf die halb Österreich das ganze Jahr wartet? Es soll ja sogar Leute geben, die bereits Ende des Jahres die Fenstertage fürs nächste Jahr ausfindig machen und bei erstbester Gelegenheit, spätestens sobald die Urlaubstage eingetragen werden dürfen, all jene Tage wählen, die ihnen in Summe den ergiebigsten Gesamturlaub sichern. Fenstertage werden schamlos ausgenützt.

Was also habe ich getan? Ich habe mich mit der Ernte beschäftigt. Peter Handke erntet gerne Waldpilze und strickt. Josef Winkler? Vielleicht zieht er sich eine seiner indischen Volksweisen rein. Ich habe jedenfalls geerntet. Echte Kärntner Kräuter. Petersilie, Schnittlauch, Rosmarin und Oregano. Und dann habe ich sie geschnitten und in die Tiefkühltruhe verfrachtet. Sie werden im Winter der Gemüsesuppe oder den Kärntner Kasnudeln einen unverwechselbaren Geschmack verleihen. Ernten also. Alles besser als diese schwachsinnigen Kommentare und Politikzusammenfassungen im Netz zu betrachten. Man will sich ja schließlich erholen. Sie sind unerträglich geworden und so schlendere ich lieber entlang der Glan und setze mich auf einen der Granitsteine in der Nähe des Landeskrankenhauses. Und sehe dort – eine Margeritenwiese, einen hölzernen Salamander, einen Steinbrunnen mit Fußauslöser und ein Holzschiff auf beweglichen Federn, das ich sofort entere. Mich hin und herwiege und endlich das tue, wofür wir geschaffen sind. Gedanklich zu fliegen. Und als ich so die hoch stehende Blumenwiese überfliege, sehe ich in der vermehrt wasserführenden Glan einen Wurzelstock – und wie das Wasser um ihn tänzelt, und wie es schlurft und er sich seelenruhig und knochig keinen Millimeter im Wasser bewegt. Und er das Wasser zwingt, einen neuen Weg um ihn zu nehmen. Und mit einem Schlag wird mir klar, dass dieses Wasser, das die Glan entlang rinnt, das heute besonders dreckig und undurchsichtig ist, die österreichische Bevölkerung darstellt. Alle in dieselbe Richtung. Ohne Aufhebens. Und ich, „die Wurzel der Nation“, halte dagegen. Und ich bin glücklich für diesen Moment. So glücklich, dass ich mich unter zwei Bäume lege und ihnen danke, dass sie mir und den zahlreich in ihren Ästen befindlichen Vögeln, Schatten spenden. Während …

… während viel Wasser die Glan entlang geronnen ist. Mitsamt den Politikerinnen und Politikern, den Medienleuten, den Experten, die bald wieder bei irgendwelchen Gesprächsgipfeln landen – und es sind NIE die Betroffenen, die eingeladen werden – es sind immer die, die es nicht betrifft, die über das Los der anderen entscheiden.

Und als ich so unter den Bäumen liege, höre ich wie eine Frau zu einer anderen sagt:
„Vergesslich ist er geworden, erschreckend vergesslich …“

***

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Gerald Eschenauer
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Gerald Eschenauer

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Schriftsteller. Philosoph. Schauspieler. Kulturvermittler, der zwischen den Welten wandelt.

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