FREISTIL – KW 17/23

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Wochenkommentar KW 17 – 29. April 2023

Momente der Vollendung
Es gibt Momente der Vollendung. Wenn sich der Geist auf den Weg begibt. Aus Formen aussteigt und schöpferisch Neuland betritt. Wenn ihn ein vorausgehender Gedanke auffordert, loszugehen. Das sind Momente der Vollendung. Ebensolche sind in der Beobachtung zu finden. Wenn der Baum aus seinem Traum erwacht, seine Kraft bündelt, Blätter gegen den Himmel schickt und den Lauf des Kreises vollendet, mir nichts bleibt als tatenlos zuzusehen und – zu staunen. Wenn ich ein Buch lese und für einen Moment vergesse, dass es geschrieben wurde. Vollendete Tatsachen, die mich als Sinnwesen sein lassen. Sie werden seltener. Bis sie wohl – zur Gänze verschwinden.

Dem gegenüber stehen Momente des Stumpfsinns. All jene zeitlichen Trödeleien, die vergeudend schablonenhaft mich von mir entfremden. Das Ausfüllen eines Erlagscheins zum Beispiel – ist selten geworden. Wurde durch die elektronische Überweisung ersetzt. IBAN. Klingt wie ein übermäßiger Gegner osteuropäischen Ursprungs. Neue Feindbilder, die ich nicht sehe und nicht verstehe. Ich bin infiziert von verseuchten Gedanken, solange ich lebe. Sterben ist keine Lösung, dieser Übermacht zu entgehen. Sich mit Stumpfsinn zu versöhnen, ist, als würde man eine Überdosis beruhigender Medikamente nehmen. Man stirbt, oder kommt niemals mehr von ihnen los. Und vegetiert vor sich hin. Hirnschäden sind die Folge. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Star Trek mit Captain James T. Kirk, Spock und der USS Enterprise zurück. Stattdessen kommen Serien, die auszusprechen ich nicht im Stande bin. Stumpfsinn.

Aus beruflichen Gründen gebe ich ein Interview. Beantworte Fragen, die ich selbst nie stellen würde, um einem Publikum zu gefallen, das weder die Fragen noch die Antworten versteht. In meinem eben erschienenen Buch eröffne ich mit den Zeilen

„Was wir erwarten,
müssen wir erfüllen.“

Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Oder gehen Sie weiter? Geht Sie das Geschriebene nichts an. Wir können über alles diskutieren! Über menschlichen Massensuizid zum Beispiel. Der gerade eingeleitet wird. Alle Kreativen werden hingerichtet. Von ChatGPT. Sie nehmen nicht ernsthaft an, dass dieses allseits umjubelte Zukunftsmodell gratis sein wird. Und wieder gleite ich in Stumpfsinniges ab. Sehen Sie, wie ernst die Lage ist?

Wer in diesen Tagen nicht betroffen ist, hat nie gelebt. Ist dem Stumpfsinn vom ersten irdischen Schrei an verfallen. Ohne Herz gibt es keinen Rhythmus. Der Jahrmarkt dekadenter Ringelspielangebote hat sich potenziert bei gleichzeitig explodierenden Ticketpreisen. Ein Großteil ist nicht dabei. Wir operieren uns das Lachen in unsere zunehmend synthetischen Gesichter. Das Weinen ist Allergikern vorbehalten.

Es gibt den Moment der Vollendung. Auch in diesen Tagen. Auch in jenen Stunden der tiefsten Trauer, der unmenschlichsten Gehabe und der allumwobenen Desillusion.

Ich bin bereit.
Dort blicke ich hin. Dort will ich sein. Dort mache ich mit.
Dort ist – ich vergaß – in mir.

 

Über den Autor

Gerald Eschenauer
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Gerald Eschenauer

Gerald Eschenauer

Schriftsteller. Philosoph. Schauspieler. Kulturvermittler, der zwischen den Welten wandelt.

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